Sascha Lobo macht sich über Behinderung Gedanken. Seine Arbeitshypothese: Jeder ist behindert. Es ist nur eine Frage der Umstände. Im Grunde ist eine drei Meter hohe Mauer auch nur eine Schwelle, die für die meisten das Weitergehen verhindert. Außer man hat eine Leiter. Oder eine Abrissbirne. Oder irgendein anderes Hilfsmittel.

Sascha Lobo plädiert für eine freundliche Sicht auf diese Hilfsmittel, die er als Werkzeuge zur Mobilitätsoptimierung sieht. Technologie sieht er „grundsätzlich als eine Art ‚extensions of man'“, vor der man keine Angst haben muss.

Bleiben wir kurz bei diesem Standpunkt, der bestechend pragmatisch klingt, bevor wir nachher zum Sport und besonders zum Fußball kommen. Der Artikel klingt so, als könne Technologie der Schlüssel sein, den Graben zwischen Behinderung und Nichtbehinderung einzuebnen und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken – Technologie ist also antidiskrimierend, integrierend. Der Thrill ist dabei, dass Sascha doppelt argumentiert: Einerseits sagt er, dass es vielleicht der einzig sinnvolle Ansatz ist, „Einschränkungen als völlig normalen Teil des Lebens zu begreifen“. Andererseits sagt er: aber wir müssen dafür sorgen, dass diese Einschränkungen verschwinden, und da hilft uns die Technologie.

Das ist ein Irrtum. Es ist ein altes Probelm der Technologie, dass sie, bevor sie ein soziales Problem gelöst bekommt, es zuerst ins ökonomische Feld zieht, wo wieder ganz andere soziale Probleme entstehen. Behinderung ist, so sagt es auch Sascha zu Beginn seines Artikels, eine Frage der Relativität: man ist behindert im Vergleich zu oder hinsichtlich auf. Die Form der Einschränkung kennt jeder, siehe Mauer, aber deswegen ist nicht jeder behindert. Der Begriff der Behinderung hat die Funktion, „kognitive und psychische Zustände zu bezeichnen, die von normativen über mentale Fähigkeiten und physischen Funktionen abweichen“ (Mitchel/Snyder). Anders gesagt: die Gesellschaft definiert, was Behinderung ist. Sie unterscheidet zwischen normalen und unnormalen Einschränkungen.

Die Bioethik geht diese Unterscheidung mit und will versuchen, die unnormale Einschränkung durch technologische Neuerung zu beheben. Das ist der Moment, wo ein soziales Problem ins ökonomische kippt. Über die Entwicklung, die Forschung und die Weitergabe dieser technologischen Neuerung entscheiden Unternehmen; und sie behaupten, schnelle Lösungen für unsere jetzigen Probleme, Ängste und Einschränkungen zu finden. Dafür investieren wir in Forschung und Entwicklung, ungefähr zehn Prozent des BIPs: mit dem Erfolg, dass Behinderung und Krankheit nicht abgenommen hat, sondern fortwährend neue Einschränkungen erfunden und definiert werden.

Da kommt der Sport ins Spiel, dem die Aufgabe zufällt, Körper zu produzieren, die uns im Vergleich als eingeschränkt, mithin behindert erscheinen lassen. Das gilt in besonders krassem Maß für den versehrten Körper: Die Paralympics sind im Grunde eine einzige große Aufforderung an alle Kaputten, denn sie zeigen, dass man es trotzdem schaffen kann. Und es meint: gesellschaftliche Akzeptanz. Voraussetzung ist eine doppelte Anstrengung: die des Behinderten, sich anzupassen, und die der Gesellschaft selbst, die die Hilfsmittel produziert.

Interessanterweise ist der Fußball für diese Art der Instrumentalisierung und Ideologisierung völlig ungeeignet. Der Fußball als Sport produziert ein anders, doppeltes Ideal: das der Selbstverwirklichung bei gleichzeitiger Unterordnung unter das Kollektiv. Tatsächlich ist es nicht selten das Fehlerhafte eines Spielers, das ihn besonders auszeichnet: sprechendstes Beispiel dafür ist Garrincha, der trotz seiner kaputten Beinen und seiner ans Pathologische grenzende Blödsinnigkeit vielen in Brasilien noch vor Pelé als größter Spieler aller Zeiten gilt. Oder Messi, den auf Grund seines Zwergenwuchses alle argentinischen Topclubs abgelehnt haben, und dessen tiefer Körperschwerpunkt heute seine Dribblings für den Gegner so unvorhersehbar macht.

Wenn man Behinderung nicht mehr als Einschränkung sieht, sondern als individuelles Merkmal, das Teil einer Persönlichkeit ist, verliert sie einen Teil ihres Schreckens. Ziel muss es sein, Abweichungen von der Norm nicht so stark zu sanktionieren wie heute. Anders in der Technologie, die jeden als Behinderten verstehen will, und jedes Leben als verbesserungswürdig an sieht. Dabei ist „keiner ist behindert“ die viel freundlichere Sicht, ein erstrebenswerteres Ziel als die Arbeitshypothese, dass jeder behindert sei.