Ich habe mal eine Zeit lang in einer SHT-Abteilung gearbeitet. SHT heißt Schädel-Hirn-Trauma, also alle Sorten Hirnverletzungen, seis durch äußere Gewalt, Aneurysmen, Schlaganfälle. So vielfältig die Verletzungen, so unterschiedlich auch die Störungsbilder: Verlust der Sprachfähigkeit, Halbseitenlähmung, charakterliche Beeinträchtigungen.

Es war eine Station mit 40 Betten, und unter diesen 40 Leuten waren nicht zwei, die sich ähnelten, auch wenn sie auf dem Papier die gleichen Störungsbilder hatten. Und es gab auch die unterschiedlichsten Reaktionen auf die Beeinträchtigung, einige waren okay mit der neuen Situation und fanden sich zurecht, zwei waren sogar dankbar – einer ein kroatischer Nazihool, der zuvor Ausländer mit Eisenstangen durch die Stadt gejagt hatte und nach einem Sturz vom Balkon zu Gott gefunden hatte, ein anderer Heroinabhängiger, der bei einer Massenschlägerei auf dem Oktoberfest einen Bierkrug auf den Kopf bekommen hatte und seine Entgiftung im Koma durchgemacht hatte, und der ohne die Einblutung ins Hirn bestimmt längst tot gewesen wäre.

Es gab aber auch einige, die in schwärzeste Depression verfielen, die manchmal länger, manchmal kürzer dauerte. Und auch wenn man nach Aktendurchsicht nicht sagen konnte, wie welche Person mit der Beeinträchtigung umging, so gab es ein paar (sicher nicht repräsentative) Häufungen, die uns auffielen: Zum Beispiel, dass Leute, die ein höheres Ansehen genossen haben vor dem Vorfall, schlechter mit den Folgen umgehen konnten. Und auch, dass Leute, die in intellektuellen Berufen gearbeitet haben, nicht so gut mit den Einschränkungen klar kamen wie beispielsweise Handwerker.

Das konnte mal so und mal so lange dauern, häufiger dauerte es lange, sehr lange, weil die Umstände, in denen die Depression stattfand, ehrlich gesagt sehr deprimierend waren. Man wird abgeschoben in irgendeine dieser Einrichtungen, wo sich nur ganz selten mal einer um einen kümmern kommt, man muss umgehen lernen mit einem Körper, der sich nicht mehr wie der eigene anfühlt, der Alltag wird mühsamer, vieles von dem, was man sich für das eigene Leben noch vorgestellt hat, ist nunmehr Schall und Rauch, und die eigene soziale Stellung ist schlagartig dahin. Das ist alles wahnsinnig schwierig, sehr schmerzhaft, und es erfordert eine Menge Kraft, das alles zu meistern.

Warum ich das schreibe, ist dieses Interview.

An diesem Interview ist alles falsch.

Es beginnt damit, dass Jutta Pagel-Steidl Monika Lierhaus nicht zuhört. Sie hat nicht gesagt: So ein Leben ist nicht lebenswert. Sie hat gesagt: Ich würde das nicht nochmal auf mich nehmen, was ich da auf mich genommen habe. Das wäre doch ein produktiver Ansatz gewesen, um da einzuhaken: Warum nicht? Was hätte besser laufen können, was besser laufen müssen? Aber statt eine Diskussion über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Behinderung aufzumachen, haben wir jetzt eine Lierhaus-Debatte.

Es ist natürlich besonders albern, wenn Ilja Seifert einerseits sagt, es spiele keine Rolle, ob Monika Lierhaus ehrlich war; schließlich ist nicht wichtig, was sie gesagt hat, sondern was es bedeutet. Dadurch wischt er mit einer Handbewegung weg, was Lierhaus zum Ausdruck bringen wollte. Zwei Fragen später sagt Pagel-Steidl dann: „Auch wer sich nur durch Lautsprache verständlich machen kann, hat etwas zu sagen.“ Ja, wat denn nu? Darf man sich öffentlich nicht äußern, wenn man leidet? Hat Leid privat zu bleiben? Wollen wir nur noch Heititei-Geschichten über Behinderung, Krankheit, Einschränkung hören?

Als besonders übel empfinde ich diese paar Zeilen von Pagel-Steidl:

Für mich belegen Frau Lierhaus‘ Aussagen, dass sie ihre jetzige Lebenssituation nicht annimmt, sondern einem immerwährenden Vorher-Nachher-Vergleich unterwirft. Das ist nach einem solchen Einschnitt wie bei ihr normal. Aber nach fünf Jahren sollte diese Sichtweise nicht mehr dominieren. Zumal es ihr im Vergleich zu anderen Behinderten sehr gut geht. Sie ist ja immer noch eine fähige, attraktive Frau und Journalistin. Wenn sie nicht vor der Kamera stehen kann, dann soll sie eben schreiben.

Was für eine sagenhafte Frechheit. Per Ferndiagnose anzuerkennen, dass es Lierhaus scheiße geht, um dann direkt hinterherzuschieben: Aber hey, selber schuld irgendwie. Andere habens schwerer. Die Geschäftsführerin des Landesverbands für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderungen in Baden-Württemberg, die Pagel-Steidl ist, betreibt quasi aktiv Behindertendesolidarisierung.

Das ganze endet damit, dass Monika Lierhaus somehow plötzlich trotzdem Repräsentantin für alle Behinderten sein soll – wie sonst käme man denn dazu, sie mit Wolfgang Schäuble zu vergleichen? Was teilt Monika Lierhaus mit Wolfgang Schäuble außer einem Adjektiv, dass man ihr anpappt? Das ist genau diese Art, Behinderte gegeneinander auszuspielen, die die Persönlichkeit und den Weg, den diese Persönlichkeit hinter sich gebracht hat, mirnichtsdirnichts auf ein Schlagwort zusammendampft: behindert. Als wären alle Behinderte gleich.

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PS: Ein Teil der Erfahrungen in der SHT-Abteilung sind in die erste Geschichte in diesem Buch eingeflossen.