Es ist so: Ich habe kein Vaterland. Meine Vorfahren stammen aus Böhmen, Niederösterreich, Oberbayern, Belgien, Paris und der Normandie, in meinem Stammbaum finden sich mehrere SS-Schergen, Kollaborateure und eine französische Widerstandskämpferin, die drei Jahre in Bergen-Belsen saß. Kürzlich erfuhr ich, dass meine Ururgroßmutter eine rumänische Zigeunerin gewesen ist, und das der andere Zweig meiner Familie wahrscheinlich aus der Nähe des Aostatales kommt.

Ich bin eine europäische Straßenmischung.

Und ich bin kein Ausländer. Kein richtiger jedenfalls, man sieht es mir nicht an, dass sich mein Genpool nicht aus Leuten speist, die seit Jahrhunderten Ackerland in Donaunähe umgepflügt haben. Ich spreche einwandfrei deutsch, zumindest bis zum vierten Bier. Oh, ich trinke Bier! Sarrazin wäre stolz auf mich.

In meiner Kindheit und Jugend war ich Ausländer. Ich bin in einem Kaff aufgewachsen. Es gab dort zwei Ausländer, eine Schweizerin und meinen französischen Vater, der das Pech hatte, Deutsch auf dem Bau zu lernen. Seither spricht er Schwäbisch mit französischem Akzent. Das hört sich so aufgeschrieben viel charmanter an, als es klingt.

In der Jugend wird sehr auf die feinen Unterschiede geachtet: alle um einen herum befinden sich im Prozeß der Ichwerdung, keiner weiß genau, was er jetzt repräsentieren soll. Man grenzt sich ab.

Es gab natürlich Dinge, die mich deutlicher von anderen unterschieden: mein Name. Bei meiner Geburt hieß ich Frédérique, aber als in zunehmenden Alter immer mehr Briefe für mich kamen, die an Mlle und Frau Valin adressiert wurden, ließen meine Eltern das ändern. Nicht, weil sie dachten, ich könnte darüber verwirrt sein, ob ich jetzt Mann oder Frau sein sollte, sondern um mir ständige Nachfragen zu ersparen.Da sieht man mal, wie durch Konformismus Geschlechtszuschreibungen gefestigt werden.

Mein Nachname blieb mir, den keiner aussprechen kann, nicht einmal alle Geschwister, obwohl sie selbst so heißen. Meine Zweisprachigkeit, meine kulturelle Prägung. Meine Vorliebe für französische Musik und Literatur zum Beispiel, wobei nicht ganz zu entschlüsseln ist, inweifern ich da selbst die Entscheidung getroffen habe, mich in meinen Präferenzen unterscheiden zu wollen.

Was mich in meiner Kindheit nämlich zum Franzosen gemacht hat, war der Blick der anderen. Ich war, was man einen gut integrierten Außenseiter nennen könnte: ich denke, ich galt allgemein als ein wenig eigenartig, hatte aber viele Freunde, denen das egal war. Manchmal allerdings mussten sie den Eigenartigkeiten einen Namen geben, um mit ihnen umgehen zu können: und sie nannten sie Franzose. Wannimmer ich krudes Zeug vor mich hinredete oder anderweitig auffällig wurde – als ich mit 16 nach Jahren der allgäuer Mundart plötzlich wieder begann, Hochdeutsch zu sprechen oder irgendwann auf die Idee verfiel, unbedingt Pfeife rauchen zu müssen – hieß es: der Franzose. Und dann war wieder gut. An das, was man an mir nur schlecht verstand, pappte bald die Tricolore.

So kam es, dass mich das, was mich ausmachte, was mich deutlich von den anderen unterschied, mit Frankreich verband.

Was „meine kleinen Kameraden“ (Sartre, Entschuldigung) nicht wussten oder ahnten: In Frankreich war es ganz ähnlich. Ich war oft und dann lang in Frankreich, und wenn ich dort war, hier ich der Deutsche. Eine enge Kindheitsfreundin von mir, zwei Jahre älter, bezeichnete mich vor ihren Freunden noch bis vor wenigen Jahren als „Austauschschüler“, was ich als unerhörte Kränkung empfand. Es wurde kein Klischee ausgelassen: Wenn ich an einer roten Ampel stehen blieb, hieß es, ich sei schon sehr deutsch, deutscher als das Elsaß allemal.

Aber ich war ich Franzose! Aber nun in Deutschland. Viele Binationale, mit denen ich seither gesprochen habe, kennen das Phänomen: Ein Vaterland hat man nicht, es ist immer dort, wo man gerade nicht ist.

Dafür hat man zwei Muttersprachen, ich bin, was meine nationale Erziehung anbelangt, in einer lesbischen Beziehung aufgewachsen.

Die Frage nach meiner Nationalität und was an mir jetzt spezifisch deutsch oder französisch ist hat erst in Berlin wirklich aufgehört. Als ich hierherzog, wohnte ich zunächst im Friedrichshain, später in Neukölln, und dort sind all diese Fragen nach Herkunft und Identität bereits als albern entlarvt worden. Ich wurde nicht gelabelt, jedenfalls nicht nach nationalen Gesichtspunkten, und im Gegenzug ist es mir inzwischen auch sehr egal, wie jemand meinen Namen ausspricht. Auf offiziellen Dokumenten sollte er einigermaßen richtig geschrieben stehen, sonst hab ich später Scherereien, aber die Accents zum Beispiel kann man meinetwegen mit dem Pfefferstreuer über die Vokale verteilen. Kuckt eh keiner nach.

Warum ich das erzähle: es gibt alle zwei Jahre eine Zeit, in der sich das ändert, in der man Farbe bekennen soll. Bist Du für Deutschland oder für Frankreich, das ist eine Frage, die mir bei großen Turnieren häufig begegnet. Und alle schauen immer ganz irritiert wenn ich sage: In Deutschland für Frankreich, in Frankreich für Deutschland.

(Dabei ist das schon eine Konzessionsantwort, tatsächlich weiß ich vorher meist gar nicht, für wen ich bin, das kristallisiert sich im Laufe der Zeit erst heraus; recht oft mag ich Holland, manchmal auch Italien, ausgerechnet die beiden fußballerischen Erzfeinde der Deutschen und Franzosen. Aber das jemandem erklären, der sich gerade wie im Wahn auf seine Nationalität stürzt, hat wenig Zweck.)

Es ist so, dass ich diesen Nationenwahn nicht verstehe, nicht verstehen will und wahrscheinlich auch gar nicht verstehen kann. Ich beobachte das mit Argwohn. Ich fühle mich nicht ausgeschlossen, wenn meine Nachbarn eine von Bitburger gesponsorte Deutschlandfahne anbringen; sie tun mir nur ein bisschen leid. Ich fühle mich auch nicht bedroht von den ganzen Nasen, die seit 2006 fortwährend nach einem entspannten Patriotismus schreien – albern finde ich sie, wie man Leute albern findet, die jetzt auchmal „einen kiffen“ wollen und dann danach fünf Stunden am Stück erzählen, wie geil bekifft sie jetzt sind. Selbst wenn man ihnen Basilikum gegeben hat; vor allem, wenn man ihnen Basilikum gegeben hat.

Ich weiß auch, dass der Nationalismusschub der letzten Jahre Gefahr verheißt; dass im Windschatten der WM 2006 eine neue Fremdenfeindlichkeit entstand oder im Entstehen begriffen ist; und das es wichtig ist, sich damit zu beschäftigen und gegenzusteuern. (Vor allem auch bei Äußerungen öffentlicher Personen, Steffen Simon zum Beispiel oder Oliver Kahn, der bei jedem Spiel ganz knapp davor ist, etwas in die Richtung wie „der Afrikaner an sich“ zu sagen. Bei denen müsste man immerhin davon ausgehen, dass ihnen jemand verklickert, was sie da gerade von sich geben.)

Meine vielleicht etwas flapsigen Bermerkungen im vorletzten Absatz sollen diese Entwicklungen nicht verleugnen; es mag blind sein, in den Fahnenschwenkern mehr kleine Kinder zu sehen als zurechnungsfähige Erwachsene. Ich kann an Nationalismus nichts unschuldiges finden, und möglicherweise unterstelle ich dem einzelnen Fahnenschwenker deswegen Naivität, um überhaupt mit ihm ins Gespräch kommen zu können; um sicherzugehen, ob er über ein sogenanntes geschlossen rechtes Weltbild verfügt oder eben ähnlich tickt wie meine Physiotherapeutin, die mir neulich sagte, sie sei total für Portugal, habe aber trotzdem schwarz-rot-goldene Spiegelschoner, weil macht man so.

Das ist natürlich idiotisch; aber nicht böswillig.

Ich bin da außen vor, und ich muß sagen: in diesem außen vor lebt es sich viel entspannter. Unter anderem deswegen, weil ich nicht fortwährend beweisen will, wie entspannt ich bin.

Andernfalls würden meine Urlaube wahrscheinlich so aussehen: