Was passiert mit einer einzigartigen Atmosphäre, wenn immer mehr Menschen sie aufsuchen, ohne aber mit der Bedingungslosigkeit eingefleischter Fans zu ihr beizutragen? Und was ist eigentlich davon zu halten, dass westdeutsche Bürgerkinder ihr Berliner Identitätsheil in einem Ost-Berliner Arbeiterverein suchen? Die erste Frage ist schnell zu beantworten: Es wird der Atmosphäre schaden. Die zweite ist ungleich kniffliger, wirft sie doch die viel grundsätzlichere Frage nach der Identität derer auf, die eine neue Heimat in Berlin suchen. Die Überidentifikation mit Union ist dafür sicher nur die zweit- bis zehntschlechteste Lösung – trotzdem möchte ich der stetig wachsenden Zahl derer, die nun Union als trendiges Berliner St.-Pauli-Surrogat für sich entdecken, zurufen: „Ihr seid keine Unioner!“ Ihr seid fremd in der Alten Försterei, so fremd wie ich! Ihr verliert euch mit eurem flüchtigen Blick in die Kurve in Klischees über die „guten Seiten“ der hier immer noch genuin ostdeutschen Gesellschaft: Heimelig, stolz und erfinderisch wird aus nichts viel gemacht – das bestätigt nur die Kitschbilder in eurem Kopf. Und glaubt ja nicht, ihr könntet als Touristen an einer Stimmung teilhaben, ohne sie zu ihrem Nachteil zu verändern.

Es ist nicht ganz falsch, was Johannes Schneider da in den Tagesspiegel geschrieben hat.

Obwohl… Doch. Doch, es ist falsch. Ganz falsch.

Ich bin einer von denen, die vier bis sechs Mal im Jahr in die Alte Försterei gehen. Um Fußball zu kucken, ohne ein Opernglas zu brauchen. Sicher, ich habe Sympathien für Union. Aber nicht, weil ich es für ein St.Pauli-Surrogat halte, sondern weil ich mich regelmäßig mit Union beschäftige – wenn ich im Stadion bin, wenn Freunde, die alte Union-Anhänger sind, darüber reden, wenn die Zeitung darüber schreibt.

Das hat mit Union erstmal gar nichts zu tun. Ähnlich ging es mir in München mit den 60ern, in Paris mit dem PSG oder in Hamburg mit HSV. Ich wohnte in diesen Städten, also verhielt ich mich zu ihnen. Auch fußballerisch. Das verstehe ich unter Integration: man schafft Orte und Themen, über die man mit den anderen Menschen, die einen umgeben, kommunizieren kann.

Und dann kommuniziert man. Selbst als Bürgerkind! Ja, sogar als Student! Mit den Ossis! Im Stadion, in der Straßenbahn, am Tresen der Bar. Man hört auch viel zu, man hat ja einen gewissen Informationsrückstand gegenüber den anderen. Die da schon jahrelang in der AF stehen, die den Kasten mit aufgebaut haben, die den Ostfußball miterlebt haben oder vielleicht auch nicht, egal. Wenn eines ganz sicher die die Kitschbilder in meinem Kopf zerstört hat, dann das: diese Kommunikation.

Dass Johannes Schneider das anders sieht, liegt daran, dass er einen musealen Begriff von Heimat hat. Diesen hier nämlich:

Dabei steht es mir gar nicht zu, Union vor der Unterwanderung durch Schönwetterfans aus Westdeutschland schützen zu wollen. Es geht mir um die (nicht vorhandene) interkulturelle Sensibilität der anderen Seite. Die Vorstellung, „Heimat“ flugs erwählen zu können, scheint mir ein Auswuchs individualisierter Lebensführung, der dem Religionstourismus von Hollywoodstars in wenig nachsteht.

Das ist Kappes. Interessant ist, dass Johannes Schneider nicht sagt, wie er Heimat definiert. Dann tue ich das mal für ihn: Er scheint zu glauben, dass Heimat Abstammung ist. Das ist auf sarrazineske Weise falsch. Natürlich kann man Heimat wählen. Das reicht nur häufig nicht, Heimat ist ein Gefühl, das aus dem Prozess des Heimisch-Werdens erwächst. Und dieses Heimisch-Werden, das geht, indem man sich verwurzelt, indem man tragfähige Beziehungen ausbildet, zu Orten, Menschen, Biersorten. Das hat mit Individualisierung nichts zu tun, eher im Gegenteil: man bringt seine eigene Geschichte mit und passt die in den größeren Rahmen ein. Damit bleibt man zwar eigen, aber anschlussfähig.

Ein Satz, der bei Schneider völlig aus dem Zusammenhang gerissen scheint, weil er auf den ersten Blick stimmt, ist dieser hier:

Und glaubt ja nicht, ihr könntet als Touristen an einer Stimmung teilhaben, ohne sie zu ihrem Nachteil zu verändern.

Aber auch der ist falsch, weil er ungenau bezeichnet: Es kommen nämlich keine Touristen. Es kommen Leute, die hier wohnen, die hier leben, die sich anpassen und an die sich angepasst wird. Natürlich verändert sich die Stimmung dadurch. So ein Stadion ist ein dynamischer Ort, den man beschreiben und respektieren muss. Warum sollte man ihn kulturell regulieren wollen? Es mag Schneider überraschen, aber hätte er seinen Kommentar im Geist 60ern geschrieben, hätte er vermutlich den Stadiongesang als Teufelszeug abgekanzelt: aus England importierter Kram, der nicht zur hiesigen Kultur passen will, ja: sie sogar zerstört. Obendrein sollte er sich die Frage stellen, was sein Protekionismus eigentlich beinhaltet: hält er die Union-Kurve für so schwach und wankelmütig, dass sie die (meinetwegen sogar als Touristen gekommenen) Neulinge nicht mitreißen, nicht ebenfalls begeistern und animieren kann? Ist das nicht das alte Klischee vom maroden Osten, der sich des Westens nicht erwehren kann? Wird da nicht die Treuhand nochmal neu erzählt? Ist das nicht das Kitschbild in Schneiders Kopf?

via Textilvergehen: Ich bin kein Berliner

Update: Der Spielbeobachter dreht die Kugel nochmal weiter