Erst kam der Pfiff des Schiedsrichters, dann die Pfiffe des Publikums. Wann immer die Deutschen am Ball waren, war nichts mehr mit Stadion gleich Hexenkessel, sondern eher hyperaktives Teekesselchen. Nach einer Minute hoffte ich schon, die Deutschen mögen bitte bei unter 40 Prozent Ballbesitz bleiben, sonst Tinnitus. Kein Wunder, dass mein fußballverrückter türkischer Bäcker jede Bestellung zur Bestätigung nochmal quer durch Neukölln brüllt, wenn der so oft in türkischen Stadien war. Um es mal anders zu sagen: Was das Stadionklima anbelangt, war das heute der Hitzepol (auf der anderen Seite des Globus liegt Hoffenheim).

Die Türken hatten sich eingegraben und warteten, was die Deutschen so machen würden. Schade eigentlich, dass ich mir Analogien aus dem ersten Weltkrieg verboten habe. Aber deren Kombination ‚mit kurzen Pässen auf die Grundlinie, Flanke, Gomez‘ erwies sich als erstaunlich unbekömmlich. Stattdessen hatten die Türken ihre große Chance, ‚das Tor nach Europa ganz weit aufzustoßen‘ (Wörterbuch der deutschen Sportreportage, Sonderedition Kerner), aber Manuel Neuer gab gegen Altintop den Prinz Eugen.

Vorne hakte es, Deutschland bekam keinen Angriff zu Ende gespielt. Das lag an zweierlei: Götze haben sie zuhause gelassen und versehentlich ein verschüchtertes Häschen in die Mitte gestellt. Und zweitens stimmt es zwar, dass Mario Gomez sich besser im Raum bewegt und nicht mehr einfach nur in die Spitze sticht, aber im Vergleich zu Klose ist er trotzdem so flexibel wie eine Eisenbahn gegenüber einem Geländewagen.

Daran ändert auch das Tor nichts, das zwar brilliant abgeschlossen war, in der Entstehung aber schlicht dämlich verteidigt. Neuer fängt eine Ecke ab, wirft ihn diagoal auf Müller, der schlägt ihn lang, weit, hoch und diagonal auf Gomez. Der faltet Servet zusammen, den man am nächsten Tag in türkischen Medien deswegen Serviette nennen wird, und drischt den Ball ins lange Eck. Sah aus wie ein Spielzug, den man beim SC Freiburg häufig sieht, aber völlig untypisch für das deutsche Spiel. Ungefähr so irritierend wie Angela Merkel im Sommerkleid. Aber was solls, ein Tor ist ein Tor, einem geschenkten Gomez schaut man nicht ins Maul. Stattdessen sah man in 50.000 geöffnete türkische Mäuler, die ihr Unglück kaum fassen konnten.

Denn, so viel stand zur Halbzeit fest, eigentlich hätte die Türkei führen müssen: hinten tanzten die Deutschen gerne mal den Paso Doble: zwei Schritte, einmal Abklatschen. Aber nicht den Gegner! Dem wurde galant die weite Flur geöffnet. Nach der Halbzeit standen sie dichter gedrängt hinten drin, und die bedauernswerten Türken versuchten, sich durchzuschlagen. Aber im Fußball ist es wie bei der Liebe: schiere Leidenschaft ohne Finesse und Selbstbeherrschung reicht für fünf Minuten, bleibt am Ende aber unbefriedigend.

So kams denn dann auch, dass Götze in einem seiner sehr wenigen lichten Momente einen Pass von Neuer erdete (ein Pass übrigens, der so spekulativ war, dass ihn Die Linke in der Regierungsverantwortung besteuert hätte) und ihn quer auf Müller legte. Der schob oder schoß ihn mit einer Schußtechnik, die ich bisher so noch nie gesehen habe (außer bei ihm), ins lange Eck. Wie der das macht, diese Schüße. Diese Schieber. Schiebße vielleicht. Oder Schüßer.

Jedenfalls war von Pfeifen ganze drei Minuten nichts mehr zu hören, selbst wenn der tapfere Boateng zur Grätsche ansetzte. ‚Auf Wiedersehen‘, sang die deutsche Kurve, die bisher schönste Kritik an der deutschen Einwanderungspolitik in einem Stadion.

Und dann, zwölf Minuten vor Schluss, kaum war Boateng unter der Brause, tauchte nach einer Flanke rechts hinten Hakan Balta auf und nagelte den Ball dermaßen in die Maschen, dass man noch nicht einmal auf die Wiederholung kucken musste, um festzustellen, dass der selbst für Manuel Neuer unhaltbar gewesen sein muss. Balta übrigens, gebürtiger Charlottenburger, jubelte nicht. Was man bei Özil ständig anmerkt, muss auch hier erwähnt sein.

Danach war das Spiel vorbei. Als hätten die Türken mit dem einen Tor ihr soll erfüllt, ließen sie den Gästen das Feld. Aus reiner Gastfreundschaft schenkten sie den Deutschen obendrein noch einen Elfmeter, weil ohne diese Gelegenheit keiner das Tor hat treffen wollen. Aber Schweinsteiger ließ sich nicht lumpen (es hätte Alternativen gegeben), 1:3, Schlußakkord.

Was am Ende übrig bleibt: Erstes Länderspiel Marco Reus.